Sierra Clara: Die Geschichte der Geschichte

Himmel, Heimweh und ungeliebtes Gepäck.

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So ganz habe ich mich im Allgäu nie heimisch gefühlt. Ich landete dort als Sechzehnjährige eher unfreiwillig. Erst Jahrzehnte später, als ich weit weg davon war, kam die Sehnsucht nach diesem lieblichen Landstrich und nach der Wärme, die man zwischen den Menschen spürt, wenn man unter die Oberfläche der Konventionen schaut. Die alpine Bühne meiner Romanfiguren ist unmittelbar meinem Heimweh entsprungen. 

Der Schein der kleinen Welt kann trügen.

Mein Mann und ich hatten mal ein Jahr lang ein Au-Pair für die Kinderbetreuung, einen jungen Mann mit dunklerer Hautfarbe. Ich staunte, wie schnell unser Dorf ihn in das soziale Geschehen einlud. Wir sprachen oft mit ihm über Rassismus. Er fühlte sich bei uns in der süddeutschen Provinz nicht mehr wie ein Außenseiter als in der großen Stadt in den USA, aus der er kam. Vielleicht hat man auf dem Land sogar mehr Chancen auf Anschluss als in der Großstadt, dachte ich mir damals. 

Überlegenheitsdenken gibt es überall. Auch einer bunt gemischten Gesellschaft fällt Integration nicht leicht. Es gab Zeiten, da flog ich bis zu sechsmal im Jahr zwischen meiner alten Heimat in Deutschland und meiner neuen in Kanada hin und her. Ich rühme mich nicht mit meiner CO2-Bilanz, kann aber nicht leugnen, dass ich das Fliegen immer genossen habe. Es schafft Entfernung zu den Rollen, die wir ausfüllen müssen, wenn wir auf der Erde stehen. Der Himmel ist immer frei. Meine Protagonistin Clara fühlt sich hier zuhause, denn sobald sie am Boden ist, spürt sie wieder die Schwerkraft ihres Schicksals. Mit ihrer gemischten Hautfarbe wird sie als Kind ungeordneter Verhältnisse angeschaut, egal wo sie landet. 


Ein Mikrokosmos, der die weltweite Machtstruktur widerspiegelt.

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Die beschauliche Gemeinde Wiesenberg ist zwar Fiktion, aber von tatsächlichen Orten inspiriert. Sie ist ein reiner Spiegel und musste für meine Gesellschaftsstudie herhalten. Schon als Kind bekommt Clara die Auswüchse der Machtstrukturen zu spüren. Die Erniedrigung von Frauen ist ein gängiges Instrument. Die angeblich stabilen Verhältnisse im Dorf, die Clara und ihrer Mutter vorgehalten werden, gebären immer neue Traumen. 

Erst gegen Ende der Geschichte, als Clara die letzten Puzzleteile im Leben ihrer Mutter zusammensetzt, begreift sie, warum ihre Mutter sich in diesem Gefüge so gut auskennt. Clara sieht den globalen Zusammenhang, der gleichzeitig ihr eigener Ursprung ist: eine Welt, in der Frauen ihre Würde verkaufen müssen, um von den gigantischen Finanzströmen, die überall fließen, einen bescheidenen Teil für sich abzuzwacken. 

Damit bin ich wieder bei meinem Thema, das sich schon durch meinen ersten Roman gezogen hat, der Frauenfeindlichkeit in der Wirtschaftswelt. Ich bin bei der Realität, mit der ich mich immer noch tagtäglich herumschlage: systematische und unterschwellige Benachteiligung. Auch in meiner neuen Heimat lebe ich in der sturen Machokultur alter weißer Herren. Ich wünschte ich könnte sagen, ich hätte meinen Ärger darauf inzwischen überwunden. Aber der Ärger wird leider noch gebraucht.


Gewidmet habe ich den Roman meinen Großmüttern, Theresia und Marianne.

Die Figur “Tante Frieda” ist den beiden nachempfunden. Mit ihrer Selbstfürsorge, ihren Lebensrhythmen und ihrer klärenden, wortreichen Frauenlogik haben sie mir beigebracht, meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Zudem wurden sämtliche Freunde, die ich meinen Großmüttern in ihre Küchen brachte, bekocht, bewirtet und gesegnet, auch wenn ihnen der christliche Glaube noch so fern lag. Toleranz und Menschenliebe waren hier das Natürlichste der Welt, wenn auch im Kleinen. 

Ein großes Dankeschön geht an eine junge Flugbegleiterin, deren Name ich nicht kenne.

Ich traf sie vor Jahren auf einem Flug von Frankfurt nach Vancouver. Sie bediente mich und meine Mitreisenden mit großer Hingabe und Eleganz. Ihre Schönheit war eindeutig das Ergebnis einer Liebe zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben. Ihr bayerischer Akzent war so charmant, dass ich sie fragen musste, wo sie herkommt. “Aus der Provinz”, sagte sie. Womit die Geschichte “Sierra Clara” begann, sich zu entfalten. 

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