Kleiner Leitfaden für die Sinnsuche im Arbeitsleben

Gefangen im Trott, unausgeschlafen und unserem Temperament entfremdet – in diesen Zustand geraten zu viele von uns in ihrer täglichen Tretmühle. Einen tieferen Sinn darin zu sehen, fällt schwer. Dabei hat das Hamsterrad einmal von außen ausgeschaut wie eine Leiter, die in den Karrierehimmel führt. Wie konnte sich die Perspektive so dramatisch ändern?

Je weniger echte Erfüllung wir in unseren beruflichen Aufgaben finden, desto schneller geht es mit dem Leerlaufen, das habe ich selbst erlebt. Eine Zeit lang habe ich jeden Tag nach einem Sinn in meiner Arbeit gesucht, der über den reinen Broterwerb hinausgeht. Wie ich schließlich fündig wurde, das habe ich in einem kleinen Leitfaden verpackt.


Neueste Studien stellen fest, dass Unternehmen vor allem jungen Menschen eine Möglichkeit bieten müssen, einen größeren Zusammenhang in ihrer Arbeit zu sehen, weil es ansonsten schwierig ist, das jeweilige Talent langfristig zu halten. Ich finde das spricht sehr für die neue Generation von Arbeitsbienen. Die weit verbreitete Erschöpfungsdepression hängt nämlich nicht damit zusammen, dass die Betroffenen zu viel arbeiten, sondern dass sie sich von einer Instanz angetrieben, gemaßregelt und kritisiert fühlen, mit der sie sich nicht identifizieren können.

Ein Mensch, der sich mit seinen Aufgaben identifizieren kann, ist schwer zu erschöpfen, weil die Ergebnisse ihm Energie zurückgeben. Wer nur für Anerkennung arbeitet, dem wird die Energie bald ausgehen.

Niemand entkommt in der westlichen Welt einem gewissen Grad an Funktionalisierung durch das Wirtschaftssystem. Nur wenigen ist es gegeben, ihrer innersten Berufung nachzugehen, die nichts als Freude macht, und damit finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. Was aber jeder tun kann, ist den Sinn seines Seins und Tuns für sich selbst greifbar zu machen. Uns allen ist die wunderbare Fähigkeit des Denkens in die Wiege gelegt worden. Es kann zwar unbequem sein, zu hinterfragen, was uns täglich so schön verpackt als Wahrheit verkauft wird. Aber allein unser Menschsein verpflichtet uns zum freien Denken und damit auch zum individuellen Sein. Man muss nicht zum Aussteiger oder Revoluzzer werden, um das zu kultivieren.

Neben meiner eigenen Erfahrung hat mich ein neu erschienenes Buch über Wege der Philosophiegeschichte zur Suche nach dem Sinn zu diesem “Leitfaden” inspiriert:  (Kohlhaas und der Sinn des Lebens von Dagmar Eger-Offel). Zunächst hat mich das Buch in Staunen darüber versetzt, wie alt und faszinierend die Kultur des Denkens ist und wie sich die Sehnsucht nach Sinn durch die Jahrhunderte zieht. Man gerät beim Lesen in einen erhabenen Zustand des Betrachtens. Mit dem Sinn verhält es sich nämlich wie mit einem dieser Rätselbilder, deren Motive sich nur erschließen, wenn man Abstand davon nimmt und ein wenig mit der Schärfe spielt. Unter die Lupe genommen hat Sinn die Tendenz sich aufzulösen. Daher möchte ich hier ein paar neue Betrachtungswinkel anregen.


Denken, aber nicht für andere

Bevor ich mir klaren Geistes überlegen kann, wo mein Platz ist, muss ich die Welt in Ruhe betrachten, die Gesellschaft, ihre Geschichte, das, was wir uns gegenseitig als Realität servieren. Die Kunst ist, dieses Betrachten ohne Wertung zu tun, denn nur dann ist es reines Vergnügen und führt nicht zu Besserwisserei. „Prinzip allen seligen Lebens (…) ist die Einsicht. Man kann ohne Einsicht, ohne Sittlichkeit und Recht überhaupt nicht lustvoll leben (…)“ Epikur, 341-270 v. Chr.

Übertragen ins Arbeitsleben kann das heißen, meinen Arbeitgeber oder meinen Markt in einem großen Zusammenhang zu sehen. Wie konnte dieser Wirtschaftszweig entstehen? Welches sind die Motive neben dem reinen Profit? Welchen Prinzipien, welchen Werten, welchen Zielen folgt diese Firma? Welche Auswirkungen hat ihr Tun? Wie navigieren andere dieses System und was ist ihr Motiv? Wie sind die Strukturen entstanden? Wie die Komplexität?

Laut Dagmar Eger-Offel hat schon Jean Jacques Rousseau (1708-1774) erkannt, dass in unserer Welt das Menschliche verlorengeht, und einfache soziale Strukturen und wirtschaftliche Austauschverhältnisse gefordert, statt Überforderung durch Komplexität. Rund dreihundert Jahre später blicken wir auf das Zigtausendfache an Komplexität und kommen aus dieser Nummer auch mit Sicherheit nicht mehr raus. Nur Wissen und Betrachtung können ein Gefühl von Klarheit vermitteln, verbunden mit einem weiteren wirkungsvollen Experiment: Radikale Akzeptanz dessen, was ist – zumindest als Ausgangspunkt.

1) Das Selbst und seine Werte finden

Ein wirksamer Weg der Meditation ist es, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem man nichts tut und nichts ist. In dem tiefen Gefühl des Nichts gibt es nämlich ganz viel. Die Sicht ist frei auf das, was echt ist. Je öfter man das übt, desto klarer wird das Gespür für das Selbst. Mein liebster Meditationslehrer ist Rolf Gates. In seinem Buch „Meditations on Intention and Being“ schreibt er: „Tue nichts, sei nichts, so lernst du mit Hingabe zu tun und zu sein. Sitze täglich für eine Weile still, sei nichts und tue nichts.“

Eine spannende Übung ist es auch, wie ein Biograph auf das eigene Leben zu schauen und herauszulesen, warum man gewisse Entscheidungen getroffen hat, und warum sich gewisse Entwicklungen ergeben haben. Dabei werden die Werte erkennbar, denen man intuitiv oder auch bewusst folgt. Diese Werte verleihen dem eigenen Leben einen Plan, der sich in die Zukunft transportieren lässt und sinnstiftend ist. Bei mir führte die Übung zum Beispiel zu der Erkenntnis, dass ich die großen Entscheidungen immer aus einem starken Familiensinn heraus getroffen habe. Außerdem hat sich herauskristallisiert, dass ich einen starken Antrieb habe, Dinge zu verändern, manchmal sehr rigoros und vielleicht etwas zu schnell. Mein Leben wäre sicherlich anders verlaufen, hätte ich andere Grundeinstellungen. Ob es besser gewesen wäre? Sinnlose Frage, denn das wäre dann nicht Ich gewesen, sondern eine andere. Diese Erkenntnis hilft mir bei jeder Entscheidung und auch dabei, meiner Zukunft eine Form zu geben.

Dank Dagmar Eger-Offel habe ich in der Philosophie die Bestätigung dieses Gedankenlaufs gefunden: Friedrich Nietsche (1844-1900) „Werde, der du bist.“

Jean Paul Sartre (1905-1980) „Der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.“

2) Vom Roboter zum Schöpfer werden

Vor fünf Jahren kam ich in eine kleine Firma, in der es fünf Angestellte gab, alle seit fast zehn Jahren dort an ihrer Stelle. Um mir mein Arbeitsfeld zu erschließen, musste ich ihre jeweiligen Felder aufbohren. Meine Kollegen stellten jeden Tag Anstrengungen an, mich vom denken abzuhalten und davon zu überzeugen, dass alles, was sie schon immer so gemacht hatten, auch in Zukunft richtig sein würde. Doch nach Monaten des Lernens und Betrachtens konnte mein Geist nicht anders, als mich aus dem tiefen Abgrund der Stagnation und Selbstzweifel herauszuholen. Die Diskussionen waren nervenaufreibend, aber alle haben daraus gelernt, allen voran ich selbst. Wenn es in einer Gruppe von Menschen gelingt, unterschiedliche Standpunkte in einen Prozess einzubringen, darüber vernünftig zu reflektieren und dann einen gemeinsamen Weg einzuschlagen, dann hat sich die Wirkung des Einzelmenschen multipliziert. Ein nach dem Prinzip der Alleinherrschaft geführtes Team wird gegen dieses Kraftbündel jederzeit verlieren. Heute sind meine Kollegen und ich ein schlagkräftiges Team, das sich so flexibel bewegt, dass es in einem Marktstrudel, der immer wieder wild die Richtung wechselt, oben schwimmen kann.

Hier die drei Schritte, die ich empfehlen kann, um am Arbeitsplatz vom Roboter zum Innovator zu werden:

  • Ziele synchronisieren: Aus meinen Werten und Fähigkeiten ergeben sich meine Ziele, das was ich zu der Welt, in der ich leben will, beitragen kann. Lassen sich diese Ziele mit der Ausrichtung meines Arbeitgebers oder Marktes synchronisieren, dann bin ich am richtigen Platz.

  • Projekte starten: „Find a happy person and you will find a project.“ Das schreibt Sonja Lyubomirski in ihrem Buch „The How of Happiness.“ Es gibt immer einen gewissen Grad der Automation in unseren Jobs. Leistung muss in Einheiten gepresst und massenhaft hergestellt werden, all die täglichen Abläufe verlangen stundenweises Mikromanagement, das ist der Treibstoff unserer Industriegesellschaft. Aber abseits davon gibt es immer Projekte, und hier beginnt der Spaß, vor allem wenn diese mit meinen Werten und Zielen vereinbar sind, wenn sie Veränderungspotential im großen Zusammenhang haben, und wenn ich beschließe, ganz und gar angstfrei dafür verantwortlich zu sein.

  • Fehlschläge wegstecken, Erfolge feiern: Wer sich bewegt, der stolpert ab und zu, das liegt in der Natur des Sich-Bewegens. Dann gilt es aufzustehen, die Krone zu richten und weiterzugehen. Wer die Richtung hält, kommt per Gesetz auch an. Vor allem Frauen empfinden es aber dann oft als ungebührend, sich selbst Erfolge zuzuschreiben. Warum? Wir freuen uns ja auch mit anderen, denen etwas gelingt. Nichts gibt so viel Auftrieb wie ein Erfolgserlebnis.

Nehmen wir wieder ein bisschen Abstand. Warum die ganze Übung? Eine schöne Antwort hat der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804). Er war der Meinung, dass jeder Mensch die Pflicht hat, seine Anlagen und Begabungen zu entwickeln und sich damit nützlich zu machen. Und er geht noch weiter: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“ Darin steckt der Glaube, dass jeder einzelne mit seinem kleinen, alltäglichen Wirken die Welt verändern kann. Das bestätigt auch Jean Paul Sartre: „Der individuelle Akt bindet die ganze Menschheit.“

3) Die Welt verändern, nicht die Menschen

Die eigene Wirkungskraft zu finden und ihr eine Richtung zu geben heißt nicht, dass man die anderen nicht braucht. Ich hab in meiner Laufbahn oft mit anschauen müssen, wie sich Teams zersetzt haben, weil ein paar Einzelne glaubten, dass sie ihren Kollegen überlegen wären. Der Sinn von Arbeit liegt nicht in der Durchsetzung des Egos gegen andere. Arbeit soll für Menschen sein, nicht gegen sie. Heute werden Führungskräfte gesucht, die Freude am Wachstum anderer haben und Potentiale ausbilden können, nicht aus Eigennutz, um Leistung aus dem Rohmaterial Mensch herauszuholen, sondern weil sie an den Sinn der Leistung glauben und damit Veränderung im Sinne aller Menschen erreichen wollen.

Dagmar Eger-Offel schreibt in ihrem Kapitel über Immanuel Kant, nach seiner Philosophie resultiere der Sinn aus der selbst verantworteten Anleitung zum Menschsein in der Welt (…), und der Fähigkeit des Menschen, demütig die eigene Unzulänglichkeit anzuerkennen und sich als Teil eines größeren, vernünftigen Ganzen zu betrachten. Mir gefällt, wie das Kooperieren als Fähigkeit dargestellt wird. Tatsächlich halte ich Teamfähigkeit für echte Weisheit, die vielfach leider erst mit den Jahren kommt, vermutlich weil wir in jüngeren Jahren einen natürlichen Drang haben, unser Ego zu entwickeln.

4) Die eigene Freiheit definieren

„Wir sind zur Freiheit verurteilt.“ Da hat Jean-Paul Sartre recht, denn wir alle haben viel mehr Möglichkeiten, als wir im Stande sind, zu erfassen oder gar zu ergreifen. Im Buch von Dagmar Eger-Offel wird klar, dass selbst die großen Philosophen den Gedanken der Freiheit jedes Einzelnen nicht zu Ende denken konnten. Jeder von ihnen sieht etwas im Weg stehen, sei es den egozentrischen menschlichen Willen, der in unserer Natur liegt, und über den wir kaum Kontrolle haben (Schopenhauer 1788-1860) oder all die übernommenen und überkommenen Konstrukte unserer Zeit (Nietzsche 1844-1900). Selbst Sartre, der den Gedanken der Freiheit am weitesten trieb, legte dem Menschen die moralische Verpflichtung auf, tätig zu sein, um die Welt zu verändern. Nietzsche verweist auf die Gefahr, es sich in einer Welt voller Konstrukte bequem zu machen, anstatt sie zu hinterfragen.

Es scheint als wären alle Philosophen einheitlich der Meinung, dass wer Sinn finden will, tätig sein muss, was auch tätig im Geiste heißen kann. Hannah Arendt (1906-1975) warnt davor, dass der Mensch zum reinen Arbeitstier gemacht wird und dass „das Anschauen oder Betrachten eines Wahren“ heutzutage nicht mehr wertgeschätzt wird. Dass gerade der Arbeit ein Primat über allen anderen Tätigkeiten zufällt sieht sie als das Verhängnis der Gesellschaft. Diese Aussage ist aktueller denn je. Wir müssen uns wieder die Zeit nehmen, das Nichtstun zu kultivieren und darin zu neuen Fragen zu finden. Nicht nur, um Sinnsucher zu sein, sondern auch bessere Manager, die nicht in Aktionismus verfallen, nur um die Eintönigkeit eines Zehnstundentags, der in einem Bürostuhl sitzend verbracht werden muss, zu vergessen. Weniger tun, mehr denken – wieder nichts mit der Freiheit.

Fragen und Freiheit hin oder her, es muss ja Geld verdient werden. Wie viel Geld, das muss jeder für sich festlegen. Wie hoch muss die Zahl, die meinen Kontostand anzeigt, sein, damit ich mich unabhängig fühlen kann? Möchte ich mehr Geld haben als ich tatsächlich zum Leben brauche und wenn ja wofür? Will ich vielleicht meinen Kindern mehr Möglichkeiten geben als ich selbst hatte? Politische Bewegungen oder Wohltätigkeit unterstützen? In meine persönliche Entwicklung investieren? Mir Luxus leisten können? Die Beantwortung der Geldfrage ist ein wichtiger Baustein in der Sinngebung unserer Arbeit. Aus ihr ergibt sich, dass wir unseren Platz im System nicht nur ausfüllen müssen, sondern dies auch wollen. Womit wir wieder bei der Frage sind, wie wir diesen Platz gestalten wollen.

Fragen und Antworten sind ein Kreislauf und eine ständige Herausforderung. Der Lohn, so schreibt Dagmar Eger-Offel in ihrem Schlusswort, ist das Staunen über das Leben. Ich sehe noch eine weitere Belohnung: die große Veränderung, zu der wir beitragen.

Das Buch Kohlhaas und der Sinn des Lebens skizziert dreizehn verschiedene philosophische Ansätze und spannt einen Bogen über die Jahrhunderte, immer entlang der Fragen nach Lebenssinn und Gerechtigkeit. Es kann bei der Autorin direkt bestellt werden.

Rolf Gates. Meditations on Intention and Being

Sonya Lyubomirski. The How of Happiness

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