Zwischen Wein und Versenkung

Gute Eltern prägen ihre Kinder so, wie sie sich selbst ein gutes Leben vorstellen. Die uns eingeflößte Lebenskultur bleibt uns im Blut und manifestiert sich immer wieder. Alles wunderbar? Was, wenn uns ein Teil des anerzogenen Verhaltens nicht guttut? Die Trinkgewohnheiten zum Beispiel.

In dieser Folge meiner autobiographischen Serie erzähle ich von den Schwierigkeiten und Freiheiten meiner Kindheit und Jugend. Meine Prägungen waren zum Glück sehr vielseitig. Mit manchen hab ich mich arrangiert, manche hab ich ausgehebelt, und manche sind bis heute meine Rettung.

In den Häusern, die mein Vater für uns plante, lagen immer drei Dinge im Zentrum: ein Kamin, ein großer Esstisch und eine Bar. Der antike Esstisch zog mit uns von Haus zu Haus. Er war für große Runden gedacht. Mein Vater empfing unsere Gäste an der Bar und ließ sie von der großen, bunten Auswahl an Aperitifs wählen, die sich hinter ihm aufreihte. 

Meine Mutter stand da noch in der Küche und war im Stress. Küchen hatten damals eine Tür und verschmolzen nicht mit der Unterhaltungsfläche, so wie in heutigen Wohnlayouts. Dass sie nicht Teil der Aufwärmphase war, in der sich alle voreinander positionierten, schien meine Mutter nie zu stören. Es war eh immer das gleiche Spiel: Mit dem Charisma meines Vaters hinter seiner Massivholzbar konnte es nur selten einer aufnehmen.

Als alle um den Tisch herum saßen und meine Mutter mit dem Wildbraten aus der Küche kam, begann der Wein zu fließen. Mein Vater saß am Kopfende und hatte die zunehmend flüssige  Unterhaltung ebenso gut im Griff wie die Flaschen. Je mehr Welt- und Wirtschaftswissen aus ihm heraus floss, desto mehr Wein schüttete er hinterher. Erst als Teenager hielt ich lange genug durch, um mitzuerleben, wie die Gäste wieder aufstanden, berauscht und geimpft gegen linksgerichtete Anwandlungen. 

Dieses Ritual, so wie es sich in meiner Kindheit und Jugend unzählige Male abspielte, erkannte ich erst viel später als meine kulturelle Prägung. Ich nahm das Gießen von Alkohol in mein Glas als Baustein meiner Identität an. Bis ich mir als Erwachsene die Frage stellte: Ist das mein Schicksal? Dieser Abfluss meiner Eigenständigkeit, der so tief in mein Inneres gegraben ist, dass mein Vater nur nachschenken muss, damit es ihn durchspült?

Als mein Bruder und ich in unseren Dreißigern waren, begannen wir als Tischrunde zu scheitern. Eine Flasche, ein Drama, die nächste Flasche, das nächste Drama. Die Abende am Esstisch rutschten ins Grauen ab. Weil wir nicht mehr alles schluckten, was er uns einschenkte, empfand mein Vater uns als feindselig. Bald verschwand er ins Ausland und wollte für ein paar Jahre nichts mehr von uns wissen. Von da an übernahm ich selbst das Wegspülen meiner Gefühle und Gedanken. Der Rotwein war oft die Summe und der Fixpunkt meiner Tage.

Dass der Alkohol die Abwärtsspirale, mit der ich in meiner Jugend sehr vertraut war, immer wieder in Gang setzte, begriff ich erst in meinen Vierzigern. Da verbannte ich für eine Weile alles, was Prozente hatte, aus meinem Leben. Nur so war ich in der Lage, zu erkennen, wie selbst das, was andere als maßvolles Trinken sahen, mein Denken und Fühlen im Griff hatte.

Da wurde mir auch klar, wie der Alkohol das Wesen meines Vaters veränderte. Inzwischen war die Familie wieder vereint. Keiner trank mehr so maßlos wie früher, nur mein Vater. Der tragische Tod seines Sohns, meines Halbbruders, riss ihn noch weiter in die Abhängigkeit, bis er jegliche Kontrolle über die Sucht verlor. Nur im Rausch war er wieder fast der Alte, aber da nahm ihn keiner mehr Ernst.

Wenn mein Vater in seinen Siebzigern im Krankenhaus landete, weil seine Organe aufgrund der täglichen Vergiftung kurz vor dem Shut-Down standen, dann wollte alles in mir den Normalzustand wieder herstellen, ihn an den Tisch zerren, ihm eine Flasche Wein in die Hand drücken und ihn ausschenken lassen.

Zum Glück gab es in meiner Kindheit allerhand unterschiedliche Strömungen. So hatte ich eine Mutter, die sich nie ganz in die Wirbel, die mein Vater erzeugte, hineingab. Vielmehr hatte sie die Gabe, allem gelassen zuzuschauen. Das Zentrum ihrer Welt war ihre Familie. Dazu gehörte auch sie selbst, auf eine subtile Art, die keinerlei Aufhebens um sich macht.

Ihr Arbeitstag zwischen der Berater- und Baufirma, die meine Eltern in unserem Keller betrieben, und dem Haushalt war oft überwältigend. Doch zu einer bestimmten Stunde am Nachmittag saß sie allein am Kopfende des Esstischs, eine große Tasse Kaffee und eine Frauenzeitschrift vor sich. Als Kind schlich ich um sie herum und versuchte, dieses plötzliche Entziehen ihrer Hingabe an uns, unser Haus und die Geschäfte unseres Vaters zu verstehen. 

Als läge die Antwort in der dunklen Flüssigkeit in ihrer Tasse, fragte ich meine Mutter, ob ich den Kaffee probieren dürfte. Sie schob mir die Tasse hin, aber nach einem Schluck hatte ich schon genug von dem bitteren Zeug und wollte wissen, was daran so gut sein sollte. Meine Mutter zuckte mit den Schultern und ließ das offen. Ihre heilige Pause schien auch eine Pause von dem zu sein, was andere Leute gut fanden.

Eines Tages hatte sie keine Zeitschrift, sondern ein Buch in der Hand. Darin waren viele kleine Schwarz-Weiß-Fotos einer hübschen, schlanken Frau in Strumpfhosen und Gymnastik-Top. Eine Turnerin, dachte ich. Doch die Übungen, die sie vorführte, sahen nicht sehr athletisch aus. Sie hatte ein seltsam neutrales Lächeln im Gesicht, das dem meiner Mutter glich, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte. In den Überschriften las ich Worte wie Entspannung, Versenkung und Erwachen. Das sanfte Biegen und Balancieren ihres Körpers führte die Frau offenbar in diese Zustände.

Das nächste Mal, als ich sie suchte, saß meine Mutter nicht mehr am Tisch, sondern war ein Stockwerk weiter oben auf der Galerie, die in unser Wohnzimmer hineinragte, und von Bücherregalen gesäumt war. Auf einer Matte machte sie die Übungen aus ihrem Buch nach. Sie saß, die Beine vor sich ausgestreckt, den Oberkörper vorne übergebeugt, den Blick auf ihren Knien und rührte sich ewig lang nicht.

„Was machst du?“, fragte ich.
„Ich atme“, sagte sie.

Nichts zu tun, einfach nur zu sein und zu atmen, war also okay. Ich war begeistert von diesem neuen Regelwerk, und machte von nun an mit.

Während wir in den Haltungen verharrten, lernte ich, meinen Atem zu zählen. Bald glaubte ich zu wissen, was Versenkung ist. Sie dehnte sich dort aus, wo meine Gedanken gerade waren: im Ziehen und Pumpen in meinem Körper, in unserem Zusammensein hinter den Büchern, dem Tagesgeschehen enthoben, und in den Zahlen, die ich den Atemzügen gab. Sie war kein eigenständiges Ding, sondern hing immer irgendwo mit dran.

Nach unserer 45-minütigen Turnstunde wollte ich schlafen. Das war neu, denn mein Geist wollte eigentlich niemals schlafen, sondern immer alles gleichzeitig durchdenken, bis tief in die Nacht und oft bis in den Morgen. 

In der Schule hing ich tief in meinem Stuhl und träumte mich davon. Manchmal lag ich auf meinen Armen auf dem Tisch, bis mich meine Nachbarin anstupste oder eine Lehrkraft mich ermahnte. Was immer den anderen beigebracht wurde, ging spurlos an mir vorüber.

Die Tagebucheinträge aus meiner Teenagerzeit erzählen von Angstzuständen und Lebensmüdigkeit: 

„Zwei Uhr fünfzehn. Immer noch nicht geschlafen. Morgen ist Schule. Wie soll ich das überleben?“

„Ich hab nichts gegen Lehrer. Nur gegen die Art, in der sie meinen Mitschülern erzählen, es stehe schlecht um mich. Und wie sie immer so geil sind auf Eltern, während sie sich für deren Kind einen Scheiß interessieren.“

„Ich hab schreckliche Angst, eines Tages bezahlen zu müssen.“

„Mein Leben ist ein Grab, in dem man nicht sterben darf.“

„Das Leben ist eigentlich immer scheiße, und ich steck darin fest wie ein Arsch im Kaugummi.“

„Mama sagt, ich soll mit den ordinären Ausdrücken aufhören.“

Doch in diesen Ausdrücken lebte meine Wut auf das, was man meine Erziehung nannte. Denn ich kam in dieser Sache gar nicht vor. 

Auch mein Vater führte eine Art Tagebuch.

Ich habe seine Notizbücher geerbt, als er vor zwei Jahren starb. In der Zeit, als ich vierzehn/fünfzehn war, plante er große Exportgeschäfte. Von Dosenwurst über Klopapier bis zu Erfrischungsgetränken war alles dabei. 

Was ihn in dieser Zeit so umtriebig und so unzugänglich machte, wurde mir erst jetzt klar: all diese weltumspannenden Aktionen, die Deals mit Großunternehmen, um möglichst schnell möglichst viel Geld umzuschlagen, gingen in die Hose. Der große Wurf sollte noch kommen, aber nicht ohne die immense Ausdauer meines Vaters ordentlich auf die Probe zu stellen. Er war ein Typ, der einfach nicht lockerließ.

Wenige Väter der Achtziger fühlten sich für ihre Kinder zuständig, doch die Wenigen ließen mich ahnen, dass ich etwas entbehren musste, was ich gebraucht hätte. Mein Vater arbeitete zwar zuhause und tauchte zum Mittagessen aus dem Keller auf, aber seine Mitarbeiter saßen mit am Tisch und es wurde nur über Business geredet. Was immer ich schulisch tat oder nicht tat - viel, wenig, gar nichts - erzeugte immer gleich wenig Feedback oder Reibung. 

Erst als der Rektor einen Brief schickte, um mitzuteilen, dass ich der Schule verwiesen war, erzeugte ich endlich einen Einschlag. Ich saß meinem Vater an seinem Schreibtisch gegenüber, als er sich als Krisenmanager der Sache annahm, und meinen Klassenlehrer anrief. Weil er für den Lehrer ein unbeschriebenes Blatt war, füllte mein Vater erstmal dessen Wissenslücken über seine Finanzstärke auf. Dann machte er ihm ein unzweideutiges Angebot. Dieses traf aber leider auf ein unbestechliches Gegenüber. Mein Lehrer war “geil” auf alle Eltern, nur auf meine nicht. 

Der Begriff Depression wurde damals auf Teenager nicht angewandt. Wir  waren allenfalls verzogen und stinkfaul. 

Ich fand keine Motivation, etwas an meiner Trägheit zu ändern. Nichts lockte mich aus der verhangenen, verlassenen Höhle in mir drin. Schon mit fünfzehn trank ich fast jeden Tag Wein und bald auch stärkeren Stoff. Das einsame Trinken löste mich erst los von dem Alltag, den ich nicht erleben wollte, dann aber war es wie Sirup, der mich darin verklebte.

Das, was letztlich meine Rettung war, war für meine Umwelt gar nicht existent.

Einerseits schrieb ich in mein Tagebuch, wie leer und witzlos das Leben war, andererseits war ich ein Bündel aus Emotionen. Musik und Poesie erfüllten mein Gemüt Tag und Nacht. In der Schule und meiner ewigen Müdigkeit hielt ich es nur aus, weil mir Songzeilen im Kopf rumgingen. Ich sehnte mich ans andere Ende der Welt, dorthin, wo meine musikalischen Helden lebten, denn dort musste es das geben, was ich suchte: Seele. 

Für die Außenwelt war meine Innenwelt reine Illusion, ein Produkt meiner Melancholie, meiner Faulheit. „Ich bin am absoluten Ruhepol“, schrieb ich. „Ich will nicht mehr analysieren. Ich will nur, dass die Musik niemals aufhört. Sie ist allein für meine Ohren. Niemand hört sie, wie ich sie höre.“

Jahrzehnte später arbeite ich mit einem Kreis von Psychologen und Sozialarbeitern an der Prävention von Suizid unter Jugendlichen. Die Kurve steigt beängstigend an, und alle sind besorgt. Alle Naslang wird den Kindern auf ständig griffbereiten Plattformen ein neues Heil verkauft, das gar nicht aus ihnen selbst kommt. Doch sie brauchen ihre eigenen Räume, ihre eigene Zeit, und wenn sie rebellieren, dann ist es okay, wenn sie Gegendruck bekommen, solange man ihnen zuhört, und sie respektiert.

Die Auflehnung, der Absturz, die Art, wie unser Schicksal uns auffängt oder fallen lässt, ist so individuell wie ein Fingerabdruck oder eine Hormonkurve. 

Die Formel, die mich damals gerettet hat, lässt sich nicht für andere festmachen. Ich hatte das Glück, in den Yoga-Stunden mit meiner Mutter eine Erlaubnis für Versenkung gefunden zu haben. Ich lernte eine Disziplin, in der Schwelgen und Schweben gewollt sind. In sich hinein zu hören, ganz sich selbst und dabei ganz still und vergnügt zu sein, das ist eine Kunst, keine Faulheit. 

Zur Rettung gehörte auch ein Klavier, das als antikes Möbelstück zu uns kam, und dann nach und nach zum Instrument wurde.

Meine Eltern fanden einen Klavierlehrer, dem es mit endloser Geduld gelang, meinem Bruder und mir trotz Faulheit das Musikmachen schmackhaft zu machen. Neben ein bisschen Klassik ließ er uns Beatles spielen und fand höchstes Lob für das Komponieren von eigenen Melodien. 

Ein weiterer Segen war, dass meine Eltern so beschäftigt waren und dabei ein tiefes Urvertrauen in ihre Kinder hatten. Ich wurde nie überwacht oder gesteuert. Hatten meine Eltern Geldprobleme, dann bekamen wir das nie zu spüren. Sie bezahlten uns immer sehr gut für unsere Mithilfe im Haus und im Büro. Von unserem Taschengeld kauften wir vor allem Schallplatten. Die hatten Songtexte auf dem Cover, in deren Tiefen ich Sinn fand. 

Es stärkte sich meine Ahnung, dass selbst ich kleine Menschenseele etwas Schönes in die Welt bringen konnte. Ich hatte Raum und Zeit zum Schreiben. Meine Geheimnisse stapelten sich zu Lesestoff und fanden damit Eintritt in die Sphäre der Wahrheiten. Trotz meiner häufig vergeblichen Suche nach einem Grund, morgens aufzustehen, oder vielleicht gerade deshalb, war ich nie wieder so frei von der Peripherie, die um mich herum stattfand, wie als pubertierender Teenager. 

Neben dem Yoga übernahm ich schließlich auch die Kaffeepause von meiner Mutter.

Immer zur gleichen Tageszeit sitze ich mit meinem Kaffee in einem Eck und alle, die mich kennen, wissen dann, dass ich in Ruhe gelassen werden muss, wenn ich den Rest vom Tag ein ganzer Mensch sein soll.

Ab ins Chaos – nächsten Monat an dieser Stelle.

Die Yogaphilosophie beschreibt mit den “Gunas”, wie menschliche Absicht schrittweise von Frieden und Freiheit in Richtung Gewalt und Dunkelheit driftet. Nur Klarheit und Einsicht über diese uns angeborene Getriebenheit können uns vor dem Chaos bewahren, in das wir damit steuern.

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Teil 1 bis 6 verpasst? Hier geht’s zum Anfang.







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Gold gegen den Schmerz