Der heraufschauende Hund und sein verdrehter Mensch
Hunde sind die besseren Yogis. Während wir versuchen, allerlei Theorien zu verstehen, und dabei den Moment verpassen, wissen sie immer genau, was gerade passiert. Wie stellen sie das an?
Von meinen Lehrern auf vier Pfoten hab ich in meiner Yogapraxis viel gelernt …
Die Border-Collie Hündin Maggie kam im Jahr 2000 in mein Leben. Mein Mann und ich hatten zwei Kinder in Schule und Kindergarten, plus einen Pendelsohn, der seine Zeit zwischen zwei Familien aufteilte, plus eine Firma, die stetig weiter über unsere Köpfe hinauswuchs. Ein leiser Wunsch schlich sich in meinen durchgeplanten Alltag ein, nochmal etwas Kleines zu haben für die Seele. Wir einigten uns auf einen Hund. Ein weiteres Kind würden wir zeitlich nicht unterkriegen.
Mit Maggie kamen Fantasien von einem Leben auf, das mehr in der Natur stattfinden könnte. Vielleicht würden wir eine Wiese kaufen und Pferde darauf heimisch werden lassen, dann hätte Maggie immer was zu hüten. Doch stattdessen blieben wir wieder im Rahmen des Machbaren und schafften einen Hasen an, den Maggie aus dem Garten eintreiben konnte. Der Hase hieß Blitz und bewegte sich seinem Namen gemäß, wenn er um unser Haus wetzte. Maggies Nase blieb immer nur Zentimeter von seinem Hinterteil entfernt.
Das Traumbild von einem naturverbundenen Leben pausierten wir, während wir in unserem Büro an Telefonschnüren hingen und vor Bildschirmen saßen. Von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends musste die Telefonzentrale besetzt sein. Unsere Kinder streiften derweil mit Maggie durch Wiesen und Wälder und wurden dabei ebenso gut bewacht wie Blitz, wenn er sich in Freiheit wägte.
Um Abstand zu meinem Alltag zu gewinnen, fing ich an, jeden Sonntag den Berg hinter unserem Haus hinauf zu joggen. Maggie liebte das. Ihre Aufgabe, nah bei mir zu bleiben, war ihr heilig. Es gab keinen Grund, sie anzuleinen. Wir erliefen uns das Wegenetz in den Hügeln, die unser Haus umgaben. Die Wege folgten einer wilden Topografie. Sie schlangen sich um Abgründe und kurvten in Serpentinen nach oben. Manchmal legten sie sich aber auch gnadenlos auf den Anstieg. Meine Schenkel und Waden brannten, während Maggie geschmeidig immer etwa einen Meter vor mir her trabte. Nicht der Schwierigkeitsgrad des Wegs bestimmte ihr Tempo, sondern allein mein Tempo.
Egal wie sehr ich stöhnte und schwitzte, Maggies samtene, schwarze Collie-Ohren wippten genügsam im Takt ihrer Schritte. Manchmal brachen ein paar Sonnenstrahlen durch die Tannenwipfel und legten einen golden gemusterten Teppich vor uns aus. Maggie und ich liefen hinein. Laufen im Atemrhythmus, den Schmerz kommen und gehen lassen, plötzlich die Sonne im Rücken spüren und auf Maggies Fell schimmern sehen, und schon waren wir wieder hundert Meter weiter.
Oben auf dem Berg gab es verschiedene Flecken, an denen man ankommen konnte. Maggie und ich setzten uns ins Gras und blickten ins Tal, während mein Atem sich verlangsamte. Auf der Weite lag tiefe Ruhe. Meine Glückshormone spielten verrückt, und ich hätte Maggie am liebsten euphorisch umarmt, aber sie mochte das nicht. Stattdessen stellte sie eine sanfte Berührung zwischen uns her, Schnauze an Knie oder Po an Hüfte.
Es dauerte nie lang, da schlichen sich die ungelösten Konflikte aus dem Tal wieder in meinen Kopf. Ein Kunde, der mit Auftragsentzug drohte, ein frustrierter Lehrer meines Sohnes, der um ein Gespräch gebeten hatte. Obendrauf flatterte ein Steuerbescheid herein, der eine Stelle vor dem Komma mehr hatte als erwartet. Unstimmigkeiten in meiner Ehe zeigten sich ebenso sesshaft wie wir selbst geworden waren.
Maggie war schon wieder munter am Bergablaufen, da kämpfte ich mich noch durch die Last meiner Zwänge und fand nur schwer wieder in meinen Trab.
Anstatt mich zu beflügeln, stand mein Geist mir im Weg. Mein Hund spürte das natürlich, aber sie praktizierte, was die Yogis „Shanti“ nennen: inneren Frieden verbunden mit dem Wissen um die eigene Stärke in der Auseinandersetzung mit Angst, Stress und Uneinigkeit.
Maggies vier Pfoten schienen den Boden gar nicht zu berühren, wie machte sie das? Sie flog, doch ohne den Boden hätte sie nicht fliegen können, irgendwie war er doch ihr Antrieb. Offenbar konnte man die Schwerkraft nutzen, ohne sich in ihren Gesetzen zu verwickeln. Majestätisch, kontrolliert, eins mit der Umwelt, Wesen einer übermenschlichen Sphäre.
Die frühen Yogis beschrieben diesen Geisteszustand, den ich von Maggie abschaute, als interesselose, geheime Heiterkeit, das gelassene Hinnehmen dessen, was geschehen mag.
Das Halten unseres Körpergewichts über dem Erdboden ist unverzichtbar für unser Vorwärtskommen. Es erfordert Kraft und Druck, oft wird es zu Schmerz. Doch der Geist ist frei. Er kann aus den Berührungen mit den Objekten machen, was er will.
Wenn ich Sonntag morgens nicht in die Gänge kam, weil ich am Abend vorher mit einer Flasche Rotwein all die unbegreiflichen Ereignisse der Woche aus meinem Kopf gespült hatte, dann verfolgte Maggie mich durchs Haus. Ihre runden, bernsteinfarbenen Augen sahen dabei nicht mein unproduktives Umherlaufen, sondern mich. Ich fühlte mich erkannt mit all den Zweifeln an mir selbst. Ihr Blick fragte: warum rennen wir nicht einfach los?
Auch Maggie musste den heftigen Widerstand der ersten fünfhundert Meter gespürt haben. Einige Jahre später stellte sich heraus, dass ihre Hüften eine Fehlstellung hatten, und dass ihr das, je älter sie wurde, immer schlimmere Schmerzen bereitete. Doch sie sprang trotzdem mit ungebremster Begeisterung aus dem Haus und vor mir her, immer wieder zurückblickend, um sich zu versichern, dass mich mein innerer Schweinehund, ihr größter Feind, nicht überwältigen würde.
Jeder Atemzug brachte mehr Klarheit und der Lichtblick oben auf dem Gipfel blieb nie aus. Selbst strömender Regen beim Runterlaufen war danach okay, obwohl wir beide es nicht mochten, nass zu werden. Maggie konnte furchtbar begossen aus ihrem schweren Pelz schauen. Dabei nahm sie den Regen wahr, und unter ihrem Wissen um den Regen lag die Weisheit, dass er kommt und geht, weil er kommen und gehen muss, ganz so wie Anstiege, Schweinehunde oder Fluchtversuche eines Hasen.
Einfach hinschauen, frei von Voreinstellung, Illusion und Selbstschutz – das ist leider auch das Muster, das wir am seltensten anwenden. An alles heften wir erstmal eine Story, die eher gefühlt ist als gesichert. Die in der Evolution verankerte Methode unseres Gehirns, zu vereinfachen und die nächstbesten Wort-Konstrukte heranzuziehen, ist nicht sehr hilfreich.
Dazu kommt der Story-Overkill heutzutage. Ich möchte nicht nostalgisch die vor-digitalen Zeiten preisen, aber ich glaube, dass der gesunde Menschenverstand damals noch mehr Chancen hatte, sich Gehör zu verschaffen. Wie gingen wir unsere Alltagsprobleme an, bevor Millionen von Möglichkeiten herbeigegooglet werden konnten und jede erdenkliche Frage in einer überreizten Online-Gesellschaft diskutiert wurde?
Jedenfalls hatte ich das, was mich oben auf dem Berg einholte ohne digitale Intelligenz einigermaßen im Griff. Kunden, damals noch meist männlich, die in mir als Frau eine Angriffsfläche vermuteten, um Angst zu triggern und Preise zu drücken, konnte man nur mit dem Wissen um die eigenen Fähigkeiten gegenübertreten. Meine Ausdauer in Preisverhandlungen war für unseren Kosmos überlebenswichtig. Ich hatte keine andere Wahl als sie direkt am Problem zu trainieren.
Zu dem Lehrergespräch über das schwer zu zähmende Temperament meines Kindes ging ich ohne vorher den Keywords Schulprobleme, Jungs, elf Jahre in zahllose Konzepte zu folgen, mir Pseudowissenschaften reinzuziehen und meinen Sprachschatz damit zu bestücken. Ich befolgte, was Lehrer oder Lehrerin vorschlug, um dem jungen Mann im Hier und Jetzt Leitplanken zu setzen. Dieser gemeinsame Schritt machte unser aller Leben leichter. Dem Sohn hat er nicht geschadet.
Ich erging mich nicht auf Social Media in Wutausbrüchen über die politischen Hintergründe unseres Steuerbescheids. Allenfalls machte ich bei der nächsten Wahl mein Kreuz an anderer Stelle, was natürlich auch nicht half. Im Grunde verstand ich ja, warum mir der Staat Geld abknöpfen musste, und solange wir uns danach noch ernähren und sogar Biogemüse und spanischen Rotwein kaufen konnten, harrten wir eben aus, bis die Zahlung verschmerzt war. Der Wein half dann auch dabei, die Beziehungsprobleme an die Oberfläche zu schwämmen. Bei der Lösung half er natürlich nicht.
Die Dinge zu sehen, wie sie sind, heißt, sich manchmal Unlösbarem gegenüber zu sehen. Sofern dies in einem gesunden Maß stattfindet, helfen Akzeptanz, Schmerztoleranz und das Treibenlassen im Bewusstseinsfluss, in dem es keinen Moment zweimal gibt. Dem kann man getrost ein Wort verpassen, das viel Platz lässt für Interpretation und Übung: Yoga.
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