Seemannssprüche, Flötentöne und was am Ende bleibt

Manche Lektionen meines Vaters erhielt ich sehr früh im Leben, auf andere habe ich bis zu seiner letzten Stunde gewartet.

Mein Vater hatte mal einen Squash-Arm, weil er im Squash-Court einfach nicht hatte aufgeben wollen, obwohl der Arm schon brannte. Ich war so etwa sieben, acht Jahre alt. Weil er mir leidtat, setzte ich mich neben ihn aufs Sofa und gab ihm eine Arm-Massage. Er bezahlte mich für mein gutes Werk mit einer Mark. Diese unverhofft verdiente Mark solle ich niemals ausgeben, riet er mir, denn man solle immer mehr Geld haben, als man brauche. Auch wenn es nur eine Mark wäre, Hauptsache, ich bliebe im Plus. Diese Faustregel hat mich Zeit meines Lebens vor Schuldenkrisen bewahrt.

Mit zwanzig arbeitete ich als Praktikantin in seiner Firma. Während er mir über seinen Schreibtisch und die Pfeife in seiner Hand hinweg die Geschäftswelt erklärte, klingelte am laufenden Band sein Telefon. Einer nach dem anderen schilderten ihm seine diversen Abteilungsleiter ihre Probleme. Mein Vater hatte auch keine Lösungen, aber irgendwie nordete er die Mannschaft wieder ein.

„Als Chef muss man ein guter Seemann sein“, erklärte er mir. „Wenn eine große Welle kommt, darf man auf keinen Fall wie verrückt nach einer Seite drehen, sonst kentert das Schiff. Am besten schaut man über die Welle hinweg und hält einfach den Kurs – immer schön geradeaus.“

Diese Regel half mir im späteren Leben, mich nicht mit Mikromanagement aufzuhalten und auf stürmischer See einigermaßen cool zu bleiben. Aber ich war dabei weit nicht so erfolgreich wie mein Vater. Dafür war ich viel zu abgelenkt von den Banalitäten rechts und links. Das große Ziel am Horizont war nie so attraktiv, dass ich all die brotlosen kleinen Freuden dafür über Bord geworfen hätte. Das lag wohl an der Prägung, die mir mein Vater als allererstes mitgegeben hatte, noch vor der Episode mit der extra Mark in der Tasche.

Als ich fünf Jahre alt war, brachte er mir das Blockflöte-Spielen bei. Ich staune bis heute, wie dieser ungeduldige Mann damals die Ruhe aufgebrachte, meine kleinen Fingerchen zu zähmen. Meine ersten Melodien begleitete er auf der Mundharmonika. Wenn Besucher kamen, traten wir als Duo auf, und mein Vater war superstolz auf mich. Damit gab er mir das Gefühl, wertvoll für ihn zu sein. Er pflanzte die Sorge in mir, dass er es nicht verwinden würde, wenn mir etwas zustoßen würde. Umso besser passte ich auf mich selbst auf. Meine frühkindliche Bindung an ihn rettete unser Vater-Tochter-Verhältnis über die Jahrzehnte, manchmal mit Ach und Krach.

Sein Firmen-Konglomerat ließ ich in meinen jungen Jahren hinter mir, weil ich meinen Wert in seinem Leben nicht mehr spürte.

Ich musste herausfinden, wer ich ohne ihn war. Oft fehlte er mir, meist verdrängte ich ihn, dann war ich ein paar Jahre ganz frei von ihm. Erst als er mit Mitte siebzig krank wurde, kam ich wieder an Bord seines Schiffs. Alles hätte ich getan, um ihn noch einmal mit etwas, das ich zustande brachte, so zu begeistern wie als Fünfjährige beim Flöten. Doch es sollte mir nicht mehr gelingen.

Die mit seiner Krankheit einhergehende Angst, die Kontrolle über seine Geschäfte zu verlieren, riss den Spalt in seinem Wesen immer weiter auf: Hier gab es den Mundharmonika-spielenden Vater, der Liebe und Lebensgefühl versprühte, dort den Patriarchen, der Umsatzzahlen abfragte, wenn man sonntags zum Frühstück vorbeikam, und der mit dem Ergebnis nie zufrieden war.

Mit meiner Mutter und meinem älteren Bruder saß ich in den letzten Stunden seines Lebens bei ihm. Freunde, die Erfahrung mit Palliativmedizin hatten, klärten uns auf, dass das Gehör der Sinn ist, der am längsten bleibt. Also spielte ich ihm seine Lieblingsmelodien auf der Mundharmonika vor. Seine Gesichtsnerven zuckten tatsächlich zusammen, wenn ich den Ton nicht traf.

Wir glaubten schon nicht mehr, dass sich seine Augen nochmal öffnen würden.

Doch gegen alle Regeln kamen sie noch einmal zurück und blickten mich an. Ich sah die Erinnerung an unser gemeinsames Musizieren aufblitzen, an uns alle als eine Familie, in der man auf sich und die anderen aufpasst, weil man ohneeinander nicht so glücklich ist wie miteinander. Wenn unsere Beziehung auch immer eine raue See war, haben wir doch bis zum Schluss den Kurs gehalten. Nicht für ein großes Ziel am Horizont, sondern für das Schöne und gemeinsam Erlebte rechts und links vom Weg; für das, was bleibt, selbst wenn das Schiff sinkt.

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