Maggie’s Blick in die Zukunft

Der heraufschauende Hund und sein verdrehter Mensch - Teil 2

Jeder, der mit Hunden zusammenlebt, kennt die ungläubige Frage, wie eine Information, die nicht geäußert wurde, zum Hund gelangen konnte. Manchmal scheint das vierbeinige Familienmitglied sogar zu wissen, was als nächstes passiert. Eine Erklärung findet sich, wenn man der Hundenase nachgeht. Sie findet sich aber auch in den Lehren des Buddha und in den Yoga Sutras.

Hunde sind wandelnde Fragezeichen, so wie wir. Aber anders als die meisten von uns hören sie mitten am Tag öfter mal auf, fragend herumzulaufen, werfen sich in die Sofa-Ecke und fahren alles herunter. Sie blicken dann nicht mehr verwundert in die Welt, sondern auf eine himmlische Art gleichgültig. Trotz des ewig hüpfenden Hundehirns, mitten in einer Umwelt, die jede Minute hunderte Impulse aussendet, für die man den Kopf drehen und die Ohren aufstellen könnte, die vielleicht sogar einen Snack ankündigen ... Plumps, und wir können sie mal am Po kraulen, aber nicht zu lange, denn das fängt bald an zu nerven.

Es scheint, je weniger Reizen sie sich aussetzen, desto tiefer blicken unsere Hunde in die Zusammenhänge der Dinge, die um sie herum passieren.

Hunde sind aber auch dann hyperpräsent, wenn sie aufgeregt sind. Wenn sie auf fliegende Bälle oder hüpfende Hasen reagieren, dann tun sie aus dem Impuls heraus das Richtige. Weil sie Sprache nur sehr dosiert verstehen, werden sie nicht von Informationen abgelenkt, die grade nichts zur Sache tun. Es können keine verbalen Konzepte zwischen Instinkt und Aktion geraten.

Die Yoga-Philosophie besagt: Will man ganz zur Wahrheit vordringen, dann muss man versuchen, nicht in Sprache zu denken, und die Gegenwart wortlos zu erleben. Das ist aber buchstäblich leichter gesagt als getan.

Die Lehren des Zen, so heißt es, beruhen auf einer Predigt des Buddha, in der er kein einziges Wort sprach. Er hielt seinem Publikum nur eine gelbe Blume entgegen und beschrieb damit die Schönheit des “So-Seins”. Einer seiner Schüler lächelte und gab damit die beste Antwort.

Wahre Weisheit wird ohne Worte übertragen.

Information in sprachlichen Entwürfen wahrzunehmen, ist das zweite Bewusstseinsmuster, das im Yoga Sutra beschrieben wird. Leider läuft es dem ersten Muster, der reinen Wahrnehmung dessen, was ist, deutlich den Rang ab. Alle Medien nutzen unsere Empfänglichkeit für Sprache und sprechende Bilder. Immer wieder zieht es uns in den wortreichen Strom der wildesten Auslegungen der Wirklichkeit.

Wie konnte der Inder Patanjali, der vor weit über zweitausend Jahren die Sutras verfasst hat, wissen, dass die Zuschüttung ihres Verstandes mit sprachlichen Konstrukten das größte Problem seiner Nachfahren sein würde? Offenbar war das selbst damals schon ein Problem. Was ich hier schreibe, ist natürlich auch nichts weiter als ein sprachlicher Entwurf. Auch die Sutras, die den alt-indischen roten Faden der Weisheit bilden, sind sprachliche Entwürfe. Sie sind aber extrem dosiert. Sie reißen Gedankenräume auf, anstatt sie zu vernageln.

Zurück zu Maggie, meiner Border Collie Hündin und Yoga-Lehrerin. In den ersten zwei Jahren ihres Lebens war ihre Erziehung ein einziges Spiel, ein spaßiges Interagieren. Sie lernte, ihre Menschen zu lesen, wenn sie einen Ball oder einen Stock in der Hand hielten, um in Echtzeit zu reagieren, wenn er in die Luft abhob. Als könnte sie ein paar Sekunden in die Zukunft schauen, raste sie immer in die richtige Richtung. Doch nicht nur das, Maggie konnte auch erraten, wie sich bestimmte Aktionen in der Familie fortspinnen würden. Indem sie uns hochkonzentriert beobachtete, lernte Maggie, allerlei Information aus dem Raum zu filtern. Tauchte zum Beispiel unsere Badetasche auf, dann lief sie zu ihrem Korb und schrumpfte darin zu einem Kringel zusammen. So minimierte sie die Angriffsfläche der Leere im Haus, in der sie stundenlang liegen würde, während wir im Schwimmbad waren.

In ihrem Eifer, ihre Aufgabe in der Familie auszufüllen, lernte Maggie nicht nur, die sicht- und hörbaren Signale zu lesen, sondern auch unsere Stimmungen, so als würde ihr jede Veränderung unserer Chemie in die Nase steigen.

Wenn ich ein Telefongespräch führte, das mich frustrierte, dann legte mir Maggie ihren Kopf auf den Fuß. Ich begann, darauf zu achten, ob sich meine innere Unruhe und heraufkochende Angst irgendwie hör- oder sichtbar machte. Aber auch wenn ich nur stumm und steif am Tisch saß, erkannte Maggie den Moment, in dem es mir half, ihre Zuneigung auf der Haut zu spüren.

Wie konnte Maggie so schlau sein?

Ein Teil der Antwort liegt sicher in dem laserscharfen Fokus, dem mentalen Isolieren des Moments, auf das die Zucht von Arbeitshunden seit hunderten von Jahren abzielt. Man stelle sich vor, wir könnten gedanklich so tief im Augenblick sein, dass wir ihn als ausgedehnte Zeitspanne erlebten, die wir in Ruhe verstehen und gestalten könnten. Von Musikern, Akrobaten und anderen Talenten wissen wir, dass es diese Fähigkeit auch beim Menschen gibt, und dass sie eine Leistung hervorbringt, die durch Logik unerklärlich scheint.

Es gibt aber noch eine weitere Erklärung für Maggies übermenschliches Wissen. Mit unseren Sinnen erfassen wir Menschen nur einen Bruchteil der physikalischen Realität. Hunde haben uns eine Wahrnehmungsfähigkeit voraus, die dem Feinstofflichen viel tiefer auf den Grund geht, nämlich ihren Geruchssinn. Ihre Nasen sind die reinsten Labore, die hereinströmende Moleküle mit rund dreihundert Millionen Rezeptoren aufnehmen. Wir Menschen haben nur sechs Millionen Rezeptoren in der Nase. Hinzu kommt, dass etwa zwanzig Prozent des Hundegehirns nichts anderes tut, als Gerüche zu verarbeiten, verglichen mit weniger als einem Prozent beim Menschen.

Hunde leben in einem Paralleluniversum, in dem Dinge geschehen, die wir nicht mal erahnen können.

So riechen sie zum Beispiel belastende Gedanken, die unseren Hormonmix verändern. Dann kann es vorkommen, dass sie uns nicht mehr von der Seite weichen.

Maggies Gespür für Atmosphäre hatte eine ausgleichende Wirkung auf uns als Familie. Weil wir wussten, dass sie unsere Stimmung wahrnahm, wurden wir uns selbst unserer Stimmung bewusst. Das allein reichte oft schon aus, um die Laune im Haus zu verbessern. Doch dann kam der Tag, an dem ich feststellte, dass Maggie auch Ängste auffing, die nicht von einer tatsächlichen Bedrohung herrührten, sondern von einer Einbildung. Wie sollte sie beurteilen können, ob der Anstieg von Adrenalin und Kortisol in meinen Adern gerechtfertigt war oder nicht? Ängste haben bekanntlich die Angewohnheit, völlig übertrieben zu sein.

An einem unglückseligen Tag im Herbst 2002 wurde Maggie Zeugin eines Gefühlssturms, dessen Gewalt ich mir selbst zunächst nicht erklären konnte.  Auch unsere Kinder wurden nervös, doch ihnen konnte ich meine veränderte Stimmung mit Worten erklären. Bei Maggie funktionierte das nicht. Mit ihr und mir passierte, was im Yoga Sutra als weiteres Bewusstseinsmuster beschrieben wird: die Wahrnehmung dessen, was gar nicht ist, sondern was wir uns nur vorstellen. Wir sehen die Realität durch einen Nebel aus Abwehrinstinkten und nehmen darin Dinge wahr, die gar nicht geschehen.

Die Tragödie begann an dem Tag, an dem eine drastische Bedrohung unseres Hausfriedens morgens an der Tür Sturm läutete.

Bald gehts an dieser Stelle weiter: Eine alte Familiengeschichte wird aufgewühlt. Sie verstört mich und meine Seelenfreundin Maggie so sehr, dass sich Maggies Wesen verändert.

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Teil 1 verpasst? Hier geht’s zum ersten Post der Reihe.






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