Maggie tickt aus
Die feinsinnige Wahrnehmung des Moments verleiht unseren Hunden übermenschliche Fähigkeiten. Doch sie kann ihnen auch zum Verhängnis werden. Wenn ihre Menschen unter Ängsten leiden, deren Ursache nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit liegt, dann spüren Hunde den Stress und beziehen ihn auf das, was gerade passiert.
Ängste, die uns ohne erkennbaren Grund überfallen, sind allzu normal. Unsere Hunde spüren das Chaos in uns und suchen nach Erklärungen dafür. Plötzlich reagieren sie verschärft auf Menschen und Hunde, die sich uns nähern. Sie können unsere Angst und das Geschehen des Moments nicht auseinanderhalten. Wer kann es ihnen verdenken, wir scheitern ja selbst daran, unsere Stimmungen zu verstehen.
Das dritte im Yoga Sutra beschriebene Bewusstseinsmuster schlägt zu: die Wahrnehmung von etwas, was nicht ist.
Fassen wir nochmal kurz zusammen: Das erste Muster ist die reine Wahrnehmung dessen, was ist. Es ist sehr erstrebenswert, bedarf aber einiger Übung. Das zweite Muster ist die Wahrnehmung dessen, was durch Sprache ausgedrückt wird. Es beeinflusst uns am stärksten.
Sprache ist ein Segen. Es gibt so viel Raum in uns, der mit Informationen gefüllt werden will, vor allem, wenn wir verstört sind. Wer hat sich nicht am Anfang der Pandemie 2020 alle Erklärungen, Deutungen und Vorhersagen zusammengegoogelt, die im Netz zu finden waren? Es fühlt sich grausig an, in etwas hineinzuschlitttern, das keine Worte hat.
Für unsere mentale Balance ist es wichtig, erst einmal Worte zu finden für das, was passiert.
Schon wenige Tage nachdem das Virus eingeschlagen hatte, ergriff das ursprünglich Namenlose von unserer Sprache Besitz. Neue Wortgebilde flossen uns von der Zunge als wären sie schon von gestern. Social Distancing, Durchseuchung, Siebentageinzidenz und andere schräge Sachen.
Wenn die Kreation der Worte von den Ereignissen überholt wurde, wir uns also nicht mehr über das, was geschah, verständigen konnten, senkte sich ein Nebel aus Abwehrinstinkten über uns, in dem wir oft Dinge sahen, die nicht geschahen. Die Angst vor dem Unbenannten steckt wie ein Fossil in unseren Knochen. Sie wächst in uns wie Weisheitszähne und nimmt zu viel Platz ein. Sie überfällt uns wie das Schnarchen unseres Bettgenossen, das im Urzeitdschungel der Abwehr von Gefahren galt. Mehr Schaden als Nutzen. Braucht kein Mensch.
Es würde helfen, an unserer Sprache zu arbeiten, davon bin ich überzeugt. Worte formen nun mal unsere Realität. Die Sprache der Hoffnung und Wertschätzung muss schon unter der Käseglocke den Ton angeben. Wo sonst soll man sie lernen? Die Medien steuern die allgemeine Verständigung, doch sie sind auf das Aussenden von Negativimpulsen trainiert, um unsere Klicks zu erheischen. Angst triggern, um Information loszuwerden und zu manipulieren ist leider allzuoft die Marketingstrategie. Auch unter der Käseglocke wird gerne manipuliert, um Abhängigkeiten zu schaffen. Ich kann davon ein Lied singen.
Maggie schaute mir von ihrem Korb aus beim Kaffeekochen zu, da war ich mental schon beim nächsten Schritt. Den jungen Mann im ersten Stock würde ich wieder an den Füßen aus dem Bett ziehen müssen. Die Tochter hörte ich schon ins Bad gehen. Sie war leicht wie eine Feder, trotzdem gab der alte Holzboden bei jedem ihrer Schritte ein Stück nach.
Ich liebte unser windschiefes altes Haus am Hang. Lange lebten wir noch nicht hier, die Renovierung war aufwändig gewesen. Auf drei Seiten blickten wir aus den Fenstern nur in Wald und Wiesen. Läuft doch alles, dachte ich mir. Wer hätte es gedacht. Michael kam aus dem Schlafzimmer. Er und Maggie begrüßten sich. Sie schlich um seine Beine und gab sich ganz hinein in sein Schmusen. Mann im Haus, sehr engagiert, wenn er da war, aber er war oft nicht da. Er war immer dort, wo’s grade brannte, und das war meist in der Firma.
Maggie liebte Michael über alles. Sie genoss es, Männern zu gefallen. Maggie spiegelte mich. Auch ich wollte vom Mann im Haus bewundert werden, liebend mit einem Guten-Morgen bedacht, so als würde ich mit meinem sorgenden Herzen das im Frühnebel gefangene Haus erleuchten. Doch ich war in eine Peripherie geboren worden, in welcher der Mann im Haus alle Aufmerksamkeit auf sich konzentrierte, also versuchte ich erst gar nicht, zu bekommen, wonach ich mich sehnte.
Seit über einem Jahr war mein Vater aus meinem Leben verschwunden. Er hatte meine Mutter verlassen und damit auch seine erwachsenen Kinder. Wir hatten keinen Kontakt mehr zu ihm und vermissten ihn auch nicht. Er hatte mich jahrelang manipuliert. In der Logik und der Sprache meiner Kindheit und Jugendjahre war ich in meiner aktuellen Unabhängigkeit von ihm dem Untergang geweiht.
Ich streckte Michael seinen Kaffee hin und machte mich auf den Weg nach oben, um unseren Sohn aus dem Tiefschlaf zu holen. Kaum war ich auf der Treppe, passierten zwei Dinge gleichzeitig: Maggie fing bestienartig zu bellen an, und vor der Milchglasscheibe unserer Haustür versammelten sich mehrere mannförmige Schatten. Die Klingel wurde malträtiert und plärrte durch’s Haus. Ich drehte auf der Treppe um und öffnete die Tür. Maggie bellte noch wilder. Was soll das?, fragte ich mich. Sie spinnt doch sonst nicht so.
Wir wissen immer mehr als wir wissen.
Bewusst war ich keines Gedankens fähig, aber mein Unterbewusstsein musste in Sekundenbruchteilen kombiniert haben, dass die Gruppe von Männern vor unserer Haustür nur der Zugriff meines Vaters auf meinen Seelenfrieden bedeuten konnte. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass sie uns in unserer Einfahrt eingeparkt hatten, als bestünde Fluchtgefahr. Ganz vorne stand ein korpulenter Typ mit schwammigem Gesicht. Er blickte müde aus seinem grauen Kragen, so als würde ihn mein verständnisloser Ausdruck zu Tode langweilen. Er hielt mir einen Ausweis vor. „Steuerfahndung“, sagte er. „Bitte geben Sie den Eingang frei. Hausdurchsuchung.“
Untergangsfantasien führten einen Todestanz in meinen Nervenbahnen auf. Mein Atem, meine Herzfrequenz und mein Hormoncocktail signalisierten Gefahr und lösten bei Maggie einen Alarm aus. Was bei ihr ankam, war ein Ultimatum: diese Invasion ist tödlich. Sie oder wir. Sie musste ins hinterste Zimmer gebracht werden, damit wir uns der Staatsgewalt ergeben konnten. Was mein Hund nicht wissen konnte, war, dass diese Männer uns als pünktliche Steuerzahler nichts anhaben konnten, Alphatierauftritt hin oder her.
Maggie konnte nicht ahnen, dass die Eindringlinge nicht hinter uns her waren, sondern hinter einem allzu bekannten Kenner der Steuerschlupflöcher, um Beweise gegen ihn zu sammeln. Man konnte es meinem Hund nicht verdenken, denn ich umriss das ja selbst nicht mehr. In meinen Tiefen überwältigte mich die Angst, die mich tagtäglich verfolgte: dass mein Vater zurückkommen und mich daran erinnern würde, dass es Freiheit von ihm nicht gab, und wenn, dann nur gegen den Preis meiner Seele und des Friedens meiner Familie.
Worte, Impulse und Triebe erzeugen Karma. Davon wird im nächsten Teil zu lesen sein. Dann strömen Worte in meine Fassungslosigkeit, Maggie passt sich meiner inneren Drohkulisse an, und ich frage mich, ob das Karma-Ding meinen Vater einfach rigoros übersehen hat.
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