Karma: alles reine Feinmechanik

Das Wort hat den Sound von Hokuspokus. Für manche ist Karma ein geheimer Sinnspender, etwas, das man anhäufen kann, fast wie Geld nur sauberer. „Instant Karma is going to get you“, sang John Lennon. “Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort”, sagte meine Oma. Doch Karma ist kein mysteriöses System für Bestrafung. Karma ist pure Logik.

Jeder Moment ist ein Fenster, durch das wir in die Zukunft greifen - so die Yoga-Philosophie. Das, was wir in dieser Sekunde denken, sagen oder tun verändert auch die Momente, an die wir noch gar nicht denken. Und das nicht nur für uns, sondern auch für diejenigen, deren Dasein wir beeinflussen, sogar für diejenigen, die noch gar nicht geboren sind, und wahrlich nichts dafürkönnen.

Man betätigt einen Hebel und löst eine Energie aus, die nicht mehr zurückzunehmen ist. Diese Energie hat eine bestimmte Ladung, die Ladung hat eine bestimmte Wirkung auf alles Weitere. Das ist kein spirituelles Weissagen, sondern reine Feinmechanik, der so wenig zu entkommen ist wie einem Steuerbescheid.

Damals allerdings, im Jahr 2002, als meine Welt zusammenklappte, glaubte ich nicht an Karma. Ich glaubte daran, dass immer der Mächtigere gewinnt, und dass ich als Schwächere immer verlieren würde, immer benutzt werden würde für die wichtigen Unterfangen noch wichtigerer Menschen. Da gab es die grün schimmernde Oberfläche meines idyllischen Zuhauses mit Mann, Kindern, Hund und Hase, und darunter die Leere in mir, die Wertlosigkeit meiner Person. Ich hatte immer nur Wert gehabt, wenn mein Vater ihn mir vorrübergehend verlieh, um etwas für ihn zu tun. Seit seinem Verschwinden hatte ich gekämpft, um diese Prägung zu überwinden, doch unterschwellig machte sie mich verrückt. Sie machte mich hochempfänglich für die Anzeichen einer nahenden Katastrophe. Nicht nur mich, sondern auch Maggie, meinen Hund.

Logisch gedacht, wurde ich in etwas hineingezogen, das nicht meine Schuld war. Aber Logik war mir in dieser Zeit nicht zugänglich.

Es lag ein Fluch über mir, der Fluch meiner Herkunft. Die Ungnade, in die ich geraten war, weil ich sie vehement abgestreift hatte. Die Strafbarkeit des simplen Wunsches, mehr zu sein als die Tochter meines Vaters. Den Unverstand, den er mir immer vorgeworfen hatte, sobald ich eine unabhängige Entscheidung traf, zum Beispiel mit einem Mann zu leben, den er nicht ausgesucht hatte. Die Scham, mit der mich beide Männer bedachten, weil ich war, was ich war, des einen Tochter, des anderen Frau. Schuld, Scham, jahrzehntealtes Leid. Die blanke Angst um meine Schutzbefohlenen. Er oder wir.

Ängste wie diese werden von dem Teil unseres Gehirns produziert, der auf dem Stand der Reptilien stehengeblieben ist. Daher kommt der Ausdruck Krokodilhirn. Sie haben meist einen Anker in der Kindheit.

Ich hatte keine schlimme Kindheit, im Gegenteil. Ich war behütet und geliebt worden. Aber das, wonach ich mich am meisten sehnte, die Anerkennung meines Vaters für mein ureigenes Wesen, das hatte ich nie bekommen. Meine Brüder und ich sind Kinder des Narzissmus, aber jeder ist das Kind von irgendetwas. Es lag mir immer fern, das zu dramatisieren. Aber seit ich es verstehe, sind mir meine Gefühle und Reaktionen klarer geworden.

Der Frontmann der Fahndung, die frühmorgens in unser Haus eingedrungen war und dort alles auf den Kopf stellte, gestattete mir unter Aufsicht einen Anruf bei meiner Mutter und meinem Steuerberater. So erfuhr ich, dass unser Haus nur einer von vielen Orten war, an dem das Einsatzkommando zeitgleich zugeschlagen hatte. Das Finanzamt hatte eine ganze Horde von Beamten losgelassen, die das Haus meiner Mutter, das Elternhaus meines Vaters, in dem meine Oma lebte, die ehemalige Firma meines Vaters und unsere Agentur stürmten.

Ich muss den Kindern beim Packen und Anziehen geholfen haben, um sie dann zum Schulbus zu bringen. Michael durfte in die Firma fahren und sich dort das Schlamassel anschauen, in dem alle unsere Akten eingezogen und die Daten von unseren Computern gesogen wurden. Unsere Mitarbeiter fragten sich bestimmt, was ihre Arbeitgeber für zwielichtige Leute waren.

Mit den Kindern und Maggie von unserem Haus den Berg hinunter zu laufen, war sonst immer ein fröhlicher Morgenspaziergang. Maggie streifte durch die Gräser, während wir das schmale Sträßchen, das zur Dorfmitte führte, entlangschlenderten. Am Platz vor der Bushaltestelle trafen wir auf den Rest der Kinderschar unseres Orts. Alle liebten Maggie. Sie lief von einem zum anderen, um sie zu begrüßen. Normalerweise. Heute blieb sie nah bei mir und schaute feindselig in die Runde. Als einer der Jungs auf sie zukam, um ihr guten Morgen zu sagen, und eine Hand nach ihrem Kopf ausstreckte, schnappte sie in seine Richtung. Der Junge zuckte zurück und zum Glück erwischte sie ihn nicht. Alle Anwesenden schauten mich entsetzt an.

Maggie konnte das, was in mir vorging, nicht von der Außenwelt unterscheiden. Sie hielt plötzlich jeden, der sich mir und ihr näherte, für einen Angreifer.

Erst nachdem ich die Kinder in die Obhut des Busfahrers gegeben hatte und mich wieder in Richtung der Demütigung bewegte, die sich in unserem Haus abspielte, beschäftigte ich mich mit der Frage: wo ist ER eigentlich? In seinem Steuerparadies? Oder ist er mit seiner jungen Frau, die seine Enkelin sein könnte, und seinem kleinen Sohn, von dessen Geburt ich über Dritte erfahren hatte, in Spanien in seinem Feriendomizil? Weiß er, was hier abgeht? Weiß er, was seine Exfrau, seine Mutter, seine Ex-Mitarbeiter und seine Ex-Kinder hier durchmachen? Interessiert ihn das?

Die Macht reicher Männer geht immer für sie auf.

Unter Einsatz aller Tricks hatte mein Vater meiner Mutter so wenig von dem gemeinsam geschaffenen Reichtum gelassen wie möglich. Sie hatte sich vor über dreißig Jahren für das erste gemeinsame Haus ihre spärliche Rente ausbezahlen lassen und seither all ihre Energie in das Wohlergehen der Familie und der diversen Firmen meines Vaters investiert. Sie managte sein Sekretariat, den Haushalt, uns Kinder, die Hunde, hielt die zahlreichen Baustellen sauber und am Laufen, und versorgte alle, einschließlich Mitarbeiter, mit frischen Mahlzeiten. Alles ohne Feierabend, ohne Urlaub und ohne eigenes Gehalt. Jetzt stand sie da wie all die anderen Exfrauen ergrauter Geschäftsmänner, die ein jüngeres Opfer gefunden hatten – als Verlustrisiko, das man kalkulierte und dann aus der Ferne im Griff hatte. So wie viele andere betagte und betuchte Männer in seinem Dunstkreis prahlte mein Vater vermutlich damit, wie wenig Vermögen er in seiner Scheidung verloren hatte. Dieses „nicht verschenkte“ Geld schmeichelte seinem Ego genauso wie das verdiente, und wie die Steuer, die er durch den Umzug ins Steuerparadies gespart hatte.

So krass stellte sich die Situation damals dar. Natürlich hatte sie mehrere Schichten. Natürlich war mein Vater viel mehr als ein gnadenloser Geschäftsmann. Wäre er nicht auch ein wunderbarer Mensch gewesen, wäre ja alles nicht so kompliziert für mich geworden. Er korrigierte auch einige Fehler später wieder. Aber in dieser Phase seines Lebens schlug vermutlich auch bei ihm das Reptilienhirn zu und das hatte nur einen Fokus: Fortpflanzung.

Wenn es so etwas wie Karma gab, dann musste Karma für meinen Vater und Seinesgleichen auf beiden Augen blind sein, so dachte ich. Doch ich dachte falsch ….

Karma mag sich Zeit nehmen, aber Karma vergisst nichts.

Einfach nur zu sein ohne viel zu denken gibt dem Entstehen von Karma eine Pause. Weil das unserer Kultur entgegeläuft, bedarf es mehr Übung als das “Tun”.

Wer sich auf die Natur von Karma einlässt, dem geht auf, was der Hype um Achtsamkeit oder “Mindfulness” bedeutet. Es geht um das Bewusstmachen jeder kleinsten Begebenheit, denn alles, grob oder fein, hat Auswirkungen. Alles ist miteinander verbunden. Das zeigt sich schließlich auch in meiner Geschichte.

Im nächsten Teil geht es um Selbsterkenntnis, die mein Hund damals besser raushatte als ich.

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Teil 1 bis 3 verpasst? Hier geht’s zum Anfang.

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