Mein Hund und die Sache mit der Selbsterkenntnis
Meine Hündin weiß genau, was ihr gut tut und was nicht. Auf ihre Weise hat sie sich besser im Griff als ich. Meine Konditionierung ist einfach zu stark. Ich diene einem Phantom und folge selbstzerstörerischen Impulsen, anstatt zu tun, was am besten für mich wäre.
Unsere Border Collie-Hündin Maggie war ein bisschen über ein Jahr alt als wir sie mal auf eine Radtour mitnahmen. Sie raste wie ein Rennpferd hinter den Kindern her. Mein Mann Michael und ich blieben hinter ihr. „Etwas stimmt nicht mit ihren Hinterbeinen“, sagte Michael. Einmal dafür sensibilisiert, sah ich, was er meinte. Maggie hatte die Tendenz, ihre hinteren Hüft- und Kniegelenke zu versteifen, vermutlich als Schonhaltung, weil das Rasen an bestimmten Stellen nicht guttat. Aber obwohl das ziemlich deutlich war, schoben wir die Erkenntnis wieder zur Seite. Das würde sich schon verwachsen. Wir gingen einfach nicht mehr mit ihr Radfahren, und wenn dann nicht auf hartem Asphalt, sondern auf Waldwegen und in gebremstem Tempo. Etwa sieben Jahre später erfuhren wir, dass es tatsächlich in Maggies hinteren Knien eine Fehlstellung gab, die ihre Gelenke immer mehr belastete, je älter sie wurde.
Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt war sie auch Michaels Laufpartnerin gewesen. Doch er war ein schneller Langstreckenläufer, und das wurde ihr irgendwann zuviel. War er für einen Spaziergang angezogen, dann flitzte sie freudig um ihn herum, bis er es kapiert haben musste: sie wollte mit! Trat er dagegen in seinem engen, schwarzen Triathlon-Outfit auf, dann versteckte sie sich hinter mir und linste zwischen meinen Beinen durch. Manchmal machte sich Michael einen Spaß und versuchte, sie herbeizupfeiffen. Dann machte Maggie sich ganz flach hinter mir, steckte die Nase zwischen meine Füße und senkte den Blick zu Boden. Ihre Ohren legten sich nach hinten an und schalteten auf Empfangsstörung. Wir lachten und Michael lief alleine los.
Maggie reagierte weise, anstatt der Möglichkeit, von ihrem am meisten verehrten Menschen Anerkennung zu bekommen, hinterherzulaufen.
Ich glaube nicht, dass sie in die Zukunft planen und Zusammenhänge logisch verstehen konnte. Vielmehr war ihre Weisheit ein Ergebnis ihrer Aufmerksamkeit in Bezug auf ihren Körper. Sie sammelte Information, indem sie sich selbst von Moment zu Moment beobachtete. Eine Überlebensstrategie, beim Hund wohl mehr Instinkt als bewusstes Tun.
Bei uns Menschen ist das leider keine so natürliche Sache mehr. Sich mit dem eigenen Empfindungsstrom vertraut machen, sich bewusst werden, wie Sinneseindrücke, Gedanken und Gefühle darin auftauchen und dadurch ein Wissen entwickeln, aus dem heraus wir intuitiv die richtigen Entscheidungen für uns treffen, das ist eine fast vergessene Kunst. Bevor wir lange in uns gehen, googlen wir lieber, was gut für uns ist.
Mir war die Präsenz für meine Gefühle jedenfalls damals, im Jahr 2002, abhanden gekommen. Ich war mir meist nur einer Sache bewusst, nämlich dass ich funktionieren musste, um die dringenden Dinge zu regeln. Als Kind der Boomer-Generation hatte ich ein anderes Problem, als die Digital Natives heute, die ihre Entscheidungen an die künstliche Intelligenz abgeben. Ich gab meine Entscheidungen an das Leistungsprinzip ab. Ich war verhaftet mit dem Glauben an das Gesetz des Sich-Schindens. Von der Sehnsucht nach Bestätigung durch beflissenes Dienen Abstand zu nehmen, das konnte Maggie besser als ihre Menschen.
Es war ein sonniger Mittag, wenige Tage nachdem die schwer bemannte Steuerfahndung, die hinter meinem Vater her war, in unser Haus und unser Familienleben eingedrungen war. Ich war verletzt und geschlagen von der aggressiven Untersuchung und ungerechtfertigten Kriminalisierung meines Privatlebens, von der Unverschämtheit meines Vaters, uns dem auszusetzen ohne sich auch nur einmal dazu zu melden. Ich kann das heute nachspüren, wie es mir ging, doch damals war ich am ganzen Körper taub.
Es gab noch kein Narrativ, um mir und anderen zu erklären, was passiert war. Doch wie bei der Ziehung der Lottozahlen, wenn auf einen Schlag alle Kugeln gleichzeitig ins Rad fallen, ging eine Klappe auf und die Begriffe rollten herein.
Ich saß auf unserem Balkon im Schaukelstuhl mit Maggie zu meinen Füßen. Der Hase Blitz sprang um uns herum, und weil die Tür zum Garten zu war, war Maggie ganz entspannt. Blitz konnte nicht davonhopsen. Ich ließ den Rest meiner Mittagspause verstreichen und versuchte, ein paar Sonnenstrahlen zu inhalieren und Energie zu sammeln. Da klingelte mein Handy und mein Steuerberater war dran. Er hätte soeben meine Nummer an den Anwalt meines Vaters herausgegeben, denn dieser wolle sich mit mir in Verbindung setzen.
„Ihr Vater sitzt in Madrid im Gefängnis“, sagte er. „Sicherheitsmaßnahme der Fahndung, damit er nicht wieder über die Schweizer Grenze geht, bevor sein Fall untersucht ist. Das dürfte nur vorrübergehend sein. Mehr erfahren Sie gleich vom Anwalt.“
Mein Herz verfiel in Raserei und Maggie legte ihren Kopf auf meinen Fuß.
Bevor mein Handy wieder läuten konnte, stand ich auf und öffnete das hölzerne Tor zur Treppe, die in den Garten hinunterführte. Blitz sprang drauf los und Maggie zischte in Pfeilhaltung hinterher. Ihre Aufgabe war es schließlich nicht, meine Kellerleichen zu hüten, die gerade wieder in ihren Totentanz verfielen. Zudem gab es jetzt noch einen anderen Aufstand in mir, nämlich den des Muttertiers, das bereit ist, allem Übel an den Kragen zu gehen, das ein Mitglied meiner Familie bedroht. Es dauerte nicht lange, da geriet das Muttertier in ein Gerangel mit der wütenden Tochter, die den Schlüssel zu einer spanischen Gefängniszelle in den Dschungel aus hüfthohen Unkräutern werfen wollte, der in unserem Garten wucherte, damit die Türe nie wieder aufgehen würde. Das Glück meines Vaters in diesem Moment war nur, dass er ein Baby hatte. Also nahm ich den Anruf seines Anwalts an.
Es täte ihm leid, was er mir sagen müsse, begann der Anwalt die Übermittlung der Unglaublichkeiten. Es klang wie das Ende meines Erzeugers: In seinem Ferienhaus in Spanien, vor den Augen seiner jungen Frau, war er mit einem internationalen Haftbefehl abgeführt und nach Madrid verbracht worden. Dieser Mann, das Machtbewusstsein selbst, ausgeliefert, eingesperrt, all seiner Freiheiten beraubt, selbst der, mit seinen Angehörigen zu telefonieren. Geld ist Freiheit – diese seiner Parolen hatte sich ins Gegenteil verkehrt.
Er hatte seinen Anwalt gebeten, mich zu kontaktieren. Warum mich, warum nicht meinen Bruder?
Eigentlich brauchte ich alle verfügbare Zeit und Energie für meinen Alltag, der war schon kompliziert genug. Doch jetzt flogen mir Dokumentenberge im grausamsten Rechtsdeutsch in die Hände, durch die ich mich durchquälte, um zu verstehen, was mein Vater brauchte: Zeugenaussagen, Stellungnahmen und eidesstattliche Erklärungen. Es ging hauptsächlich um die Frage seines Wohnsitzes in den letzten Jahren vor seinem Abflug aus unserem Leben. Es wurde gemutmaßt, er hätte mit mir und meiner Familie unter einem Dach gewohnt. Da konnte ich guten Gewissen aussagen, dass das niemals gutgegangen wäre.
Zu diesem Papierkrieg hinzu schickte mein Vater Briefe aus seiner Zelle, in der er seine unerträgliche Lage beschrieb und die Ereignisse, die uns gespalten hatten, vor allem die unschöne Trennung von meiner Mutter, so für sich auslegte, dass sie fast romantisch klangen. Das konnte man ihm in seiner hässlichen Situation ja verzeihen. Doch für mich war das alles unverarbeitete Geschichte. Ich konnte diese Briefe nur anlesen und dann schnell im Kamin verbrennen.
Ich war nicht so schlau wie Maggie. Ich ließ mich über meine Grenzen hinaustreiben. Ich löste mich in einem Drama auf, das ich mir gar nicht hätte reinziehen müssen.
Ebenso wie Michael ohne Maggie zum Laufen gehen konnte, so wäre mein Vater ohne meinen Leidensdruck wieder freigekommen. Dass meine Gedanken Tag und Nacht um ihn kreisten, dass ich jede Gelegenheit ergriff, alles stehen und liegen zu lassen, um für ihn zu funktionieren, dabei in Verzweiflung über mein Unvermögen verfiel, dass ich mit meinem Aktionismus eine Schuld abbüßen wollte, die gar nicht auf mir lag, hatte nur den einen Effekt: mich kaputtzumachen. Wenn ich denn mal schlief, dann wurde ich von Alpträumen verfolgt, in denen ich selbst hinter Schloss und Riegel saß und schreiend gegen Wände lief.
Will man seine eigenen Umstände in Perspektive bringen, dann muss man offenbar erst mal gelernt haben, sie bewusst zu beobachten.
Meine Lernkurve begann erst vier Jahre später als ich zum ersten Mal mit einer Lehrerin Yoga praktizierte. Erst durch ihre Anleitung verstand ich, dass die Kurve tatsächlich beim Körpergefühl beginnt, so wie bei Maggie.
Derselbe Vorschlag findet sich im Zentrum buddhistischer Weisheit und in den Yoga Sutras. Es scheint widersprüchlich, wo doch Buddhismus und Yoga die Idee der Selbstvergessenheit anhaftet, in der man nichts für sich anstrebt. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti, der überhaupt keiner Denk- oder Lebensanleitung folgt und sogar davon abrät, sagte, dass man ohne Selbsterkenntnis keine Basis für eigene Gedanken hat. „Um sich selbst zu kennen, muss der Geist bewusst und achtsam sein” schrieb er, “frei von Ideen und Idealen, denn diese färben den Geist ein und verhindern die reine Wahrnehmung.“
Ist dieses Selbststudium nicht total egoistisch? Warum so viel Wind um das Selbst? Wo bleiben die andern?
Das Selbst ist schlicht das nächstliegende Studienobjekt. In seiner Beobachtung erkennen wir sehr Weitreichendes über die Menschen, ihre Beziehungen, ihre Welt. Nicht nur die Gurus und Philosophien, sondern auch die Physiker wissen schließlich, dass alles eine Materie ist – Körper, Geist, Seele, Mensch, Tier, Pflanze, Ding, der ganze Planet, das Universum ... alles besteht aus den gleichen Teilchen, die mit Energien aufgeladen sind, und den immer gleichen Gesetzen folgen. Das allein ist genug Denkstoff, nicht nur für heute sondern für eine Ewigkeit.
Im nächsten Teil rücken meine Familie und ich Maggies wunden Knochen mit Goldkugeln auf den Leib und unseren eigenen unerfüllten Sehnsüchten mit Dingen, die andere toll finden, die für uns aber belanglos und sogar ruinös sind.
Gold gegen den Schmerz – nächsten Monat an dieser Stelle.
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