Eingebrannt

Photo: Vince Eger

Momentaufnahmen der Flucht vor dem Feuer in Kelowna

“Wenn wir durch diesen Sommer kommen, ohne dass um uns der Wald brennt, dann bin ich für immer dankbar”,

das war meine Antwort auf eine nett gemeinte Frage nach dem Wetter in Kelowna in einer E-Mail Mitte August 2023. “Schön warm und sonnig”, wäre meine Antwort gewesen, wäre diese Frage nicht eine so verfängliche geworden. Der Sommer war viel zu trocken und heiß, schon viel zu lange. Die enorme Kraft der Sonne ließ die Vegetation knistern. Heißer Qualm und trockener Staub hingen in der Luft. Die Waldbrand-Saison in British Columbia hatte bereits alle Rekorde gebrochen. “Bis es endlich kühler wird, beiß ich mir die Nägel ab”, schrieb ich. 

Seit zehn Jahren leben meine Familie und ich in der sonnigsten, wärmsten Gegend von Kanada, in den Hügeln über der rasant wachsenden Stadt Kelowna im Okanagan Valley. Unser hoher Steuersatz hier hat den Untertitel “Sunshine Tax”. Seit fünf Jahren nimmt uns aber der Rauch von Juli bis September mindestens ein Drittel der Sonnentage weg. Die Steuer ist trotzdem immer weiter gestiegen. Sie ist jetzt eine Fire-Tax. Gigantische Waldbrände so zu kontrollieren, dass sie nicht in die Wohngebiete vordringen, ist wahnsinnig teuer. 

Zum Glück weht der Wind auch im Sommer regelmäßig durch’s Tal und lässt uns immer wieder Luft holen. Dann kann man sich draußen austoben, wenn es dafür nicht zu heiß ist. Viele Leute hier vertreten den Glauben, dass die Klimaerwärmung einem ganz normalen Zyklus folgt. Unser Gehirn schnappt gern in das Konzept Normalität. Wenn etwas nicht mehr normal sein kann, dann ist es eben das “neue Normal".

Wie gut unser Hirn darin ist, eine Situation zu verharmlosen und Panik zu verhindern, wenn es am heißesten hergeht, das hab ich am 17. August erlebt, als unser aller schlimmster Albtraum wahr wurde, und die Kontrolle, die der Begriff “normal” suggeriert, in Rauch und Flammen aufging. Rückblickend in die reale Gefahr, hätten wir eigentlich alle am Rad drehen müssen.

Erst brannte es nur auf der Westseite des Okanagan Lake, die uns gegenüber liegt. In den letzten Sommern haben wir dort schon öfter Brände beobachtet, es war also nichts Ungewöhnliches. Auf den bewaldeten Steilhängen verbreiten sich die Flammen in rasendem Tempo. Aber die Intensität dieser Flammen, das lichterlohe, meterhohe Orange, der verrückte, ständig drehende Wind, die Nähe zur Stadt - all das hatte eine neue Dimension. 

Mein Bruder und meine Schwägerin hatten die ganze Großfamilie zum Dinner eingeladen. Dass wir von ihrem Haus volle Sicht auf das hatten, was auf der Westseite des Sees vor sich ging, war nicht sehr appetitanregend. Wir befassten uns trotzdem mit dem Essen, lobten die Köche, redeten über alles Mögliche und vermieden das Undenkbare. Alle paar Minuten ging einer auf den Balkon, um mit einem Update wiederzukommen.

Auf den Straßen um uns herum versammelten sich Schaulustige aus der ganzen Stadt. Campingstühle wurden aufgeklappt und Bierdosen zischten. Mal sehen, wie das Spiel ausgeht. 

Dann sahen wir die ersten Häuser in Rauch aufgehen, als wären sie nichts als Streichholzschachteln, in denen noch die Streichhölzer lagen. Gigantische Stichflammen blitzten hoch, wenn ein Gastank explodierte. Die schwarzen Rauchsäulen, die anzeigten, dass Strukturen betroffen waren, vermehrten sich. Als dieses Stadium erreicht war, war es dunkler Abend und die Wasserbomber konnten nicht mehr fliegen. Langsam beschlich uns das flaue Gefühl, dass dieses Szenario auch für uns brenzlig werden könnte. 

Mein Mann und Sohn fuhren los, um nach unserem Haus zu schauen, ein paar hundert Meter die Straße hoch. Kurze Zeit später riefen die beiden mich an. Sie wollten uns ja nicht in Alarm versetzen, aber gerade hätten sie Sirenen die Straße unterhalb von uns entlang rasen hören. Die Clifton Road verläuft an der Ostseite des Okanagan Lake. Dort leben meine Mutter, meine Tochter und ihr Partner. Niemand war im Haus, meine Mutter war bei uns und die beiden anderen verreist, zum Glück. 

Jemand musste losfahren, um herauszufinden, was dort unten vor sich ging. Ich wollte meine Mutter davon abhalten, mit mir zu kommen, aber sie fuhr mir einfach hinterher. Zwei Straßen weiter gerieten wir in einen Stau. Die Schaulustigen fanden die Schau nicht mehr lustig und wollten raus. Wir mussten uns geduldig hier einfädeln und meine Mutter landete ein paar Autos hinter mir. Ich hörte einen Cop in die Autoschlange brüllen: “Get the hell out of here!” 

Als ich endlich auf die Clifton Road einbog, fragte ich mich ganz naiv, warum mir plötzlich so viel Verkehr entgegenkam. Zwei Kilometer waren es von hier zum Haus meiner Mutter, und die Schlange gegenüber hörte nicht auf. Als ich um die letzte Kurve bog, sah ich den Wald brennen, wenige Meter oberhalb des Hauses. Der Wind jagte die Flammen den Berg hinauf. In mir loderte ein Licht auf: Die Autos auf der Gegenfahrbahn waren auf der Flucht.

Woher in diesen Momenten, wenn Handeln wichtiger ist als Denken, das Wissen kommt, wie zu handeln ist, das ist nach all dem eine hochinteressante Frage für mich. Ich folgte logischen einzelnen Schritten, ohne groß nachzudenken, zog in die nächste Einfahrt, machte kehrt und rief meine Mutter an. “Dreh sofort um!” Da war sie auch schon in Sichtweite des Feuers und machte ohne Zögern kehrt.

Ich erinnere mich, dass ich unablässig mit mir selbst redete, und ich wünschte mir heute, es gäbe eine Aufnahme davon. Etwa einen halben Kilometer oberhalb des Feuers stand nicht nur unser Haus, dort standen hunderte Häuser. In ihnen waren teilweise schlafende Menschen und Haustiere. Doch das alles machte mich noch gar nicht verrückt, noch war Zeit. Meine Mutter sah währenddessen die Flammen an ihrem Haus und dachte nicht einen Moment daran, noch etwas rauszuholen. Der nächste Schritt war, wieder zum Haus meines Bruders zu fahren und die dort verbliebenen Familienmitglieder zu warnen:

“Das Feuer ist auf unserer Seite. Der Wind muss es über den See getragen haben.” 

Mein Bruder erzählt mir heute, ich hätte eine Panikattacke gehabt. Ich weiß nur noch, dass ich übers Telefon meinen Mann anschrie, der sich entschlossen hatte, in unserem Haus in Ruhe ein paar Dinge zusammenzupacken. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass das Feuer auf ihn zu brannte, und dass er zu uns kommen solle, denn hier glaubte ich uns abseits der Gefahr.

Ich telefonierte mit unserem Sohn Vince, der inzwischen mit seiner Familie nach Hause gefahren war. Die Cops waren gerade durch seine Straße gegangen und hatten allen Bewohnern fünf Minuten Zeit gegeben, um Papiere, Wertsachen und Fotos zusammenzusuchen. Wer geht innerhalb von fünf Minuten durch alte Fotos? Diese Aktion war in der Straße meines Bruders noch nicht angekommen. Wir wägten uns noch in Sicherheit hier, und ich schlug Vince vor, er und seine Familie sollten erstmal hierher kommen, aber er konfrontierte mich mit dem Unausweichlichen: “Wir müssen alle raus. Glaub mir einfach.” 

Entschlossen, meinen Mann am Kragen zu packen, fuhr ich zu unserem Haus hoch. Er schichtete hochkonzentriert Dinge in seinen Truck, deren Bedeutung in unserem Leben mir völlig entglitt. Ihn aus seiner Zone zu holen war unmöglich. Ich browste durch die Räume, schnappte mir aber lediglich unseren Hund und meinen Laptop. Dann nahm ich meinem Mann das Versprechen ab, mir zu folgen, und fuhr in Richtung Stadt. Alle anderen brauchten ein paar entscheidende Minuten länger als ich und fuhren direkt in den großen Rush der Flüchtenden hinein. 

Von unten sah ich das Feuer auf den Hügeln, wie es auf die Straße zu brannte, auf der mein Sohn, meine Schwiegertochter, mein Enkelkind und meine Mutter mit hunderten von anderen Menschen im Schritttempo aus der Gefahrenzone krochen. Da war es vorbei mit meinem kühlen Kopf. Die blanke Angst brach durch die Barrikaden und riss alles mit, was sich gegen die Welle stemmen wollte. Meine Mutter rief mich aus dem Stau an und versicherte mir, dass sich die Kolonne bewegen würde, wenn auch langsam, und dass der brennende Wald noch eine ganze Ecke weg wäre. Es half nichts, die Hölle in mir war losgebrochen. 

Ich positionierte mich an der dem Brand nächstliegenden Kreuzung, die noch zugänglich war, und bewegte mich nicht mehr vom Fleck. Andere Autos rollten fraglos um mich herum. Immer noch redete ich wie ein Podcast. Mein Hund sah mich aus dem Fußraum mit großen Augen an. Als endlich die Karawane meiner Lieben an mir vorbei fuhr, hängte ich mich an ihr Ende, als müsste ich sicher machen, dass keiner ausbrechen würde. 

Mein Mann rief an und schwor, dass er auf dem Weg nach unten wäre, doch ich hatte da schon das Gefühl, dass er schwindelte. In Wahrheit war er dabei, den Cops zu helfen, ein paar Nachbarn aus dem Schlaf zu klopfen. Anschließend versuchte er nochmal zum Haus meiner Mutter zu kommen, doch inzwischen war diese Gegend großräumig abgesperrt. Hätte er das Feuer und seine Stoßrichtung gesehen, so wie ich es gesehen hatte, wäre er dann weniger cool gewesen? Wer weiß. Wir haben wohl alle sehr individuelle psychische Mechanismen.

In dem Moment, als ich alle sicher wusste, beziehungsweise glaubte, fand ich mich erstmal wieder anwesend in meinem Körper, in meinem Auto und in meiner Stadt. Es gelang mir zu weinen, gleichzeitig zu navigieren und mit den anderen zu telefonieren, auch mit unserer Tochter, die in Vancouver saß, und das Inferno über die sozialen Medien verfolgte - in Form von Filmschnipseln von rasenden Feuerwehrautos und schreienden Menschen. Die Schaulustigen hatten sich verlagert und säumten jetzt hier unten die Straßen. Solange das, was passierte, noch Unterhaltungswert hatte, würde es uns nicht verschlingen. Der Rest würde bald eine Geschichte sein, die mich jetzt nicht interessierte.

In der nächsten Zeit träumte ich jeden Traum in Orange, vor einer höllisch lauten, von Sirenen bevölkerten Soundkulisse.

Acht Tage blieben wir evakuiert und bangten um unser Lebensumfeld. Währenddessen hatte ich eine Menge Einsichten darüber, wie wir im Angesicht und in der Folge einer Katastrophe denken und verarbeiten. Ich hatte auch so manche Erkenntnis darüber, wie die Medien reagieren und verarbeiten, um die Sucht nach Sensation zu bedienen. Außerdem staunte ich, wie präzise eine große Anhäufung von Menschen in einer Gefahrensituation kooperieren kann. Wieso ist das unter normalen Umständen so schwer? Mehr davon im nächsten Post. 

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Das Video zeigt Aufnahmen von Handys und Sicherheitskameras, zusammengeschnitten von Vince Eger.



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